15.10.2020
Heinz-J. Bontrup

Minutenlöhner in der Cloud

Digitalisierung schafft mehr prekäre Beschäftigung

Erschienen in Frankfurter Rundschau am 13.10.2020

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Wird die Digitalisierung zum Fortschritt oder Fluch? Hinter dieser Frage verbergen sich unterschiedlichste Interessen. Gewinner werden die Unternehmen sein, die die Digitalisierung anbieten und dabei noch vom Staat mit Subventionen unterstützt werden. Ob auch die nachfragenden Unternehmen von Digitalisierung Gewinner sind, steht nach heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen noch nicht fest. Für die Kapitalisten muss sich jedoch unisono der Einsatz durch eine erhöhte relative Mehrwertproduktion und eine steigende Profitrate rechnen.

Dazu notwendige Produktivitätssteigerungen implizieren einen Verdrängungsprozess menschlicher Arbeit. Dazu nur zwei Beispiele: Alle Banken werden die einfachen Geldgeschäfte auf Online-Banking vollständig umstellen. Das wird nicht mehr lange dauern. Dies spart Personal in den Filialen, die am Ende alle nicht mehr benötigt und geschlossen werden und die verbleibende Arbeit wird in den Bankzentralen qualitativ eine andere, höherwertige, sein, auf die sich die übrigbleibenden Beschäftigten werden neu einstellen müssen. Ein anderes Beispiel: Im gesamten Einzel- und Großhandelssektor werden durch digitalisierte Bezahlvorgänge alle Kassierer: innen ihre Arbeit verlieren. 

Ist es da ein Trost, dass durch digitalisierte Technik andere „Scheißarbeit“ (David Graeber) entsteht, die einfache (repetitive) und wirtschaftlich noch mehr prekäre Beschäftigung mit Hungerlöhnen bedeutet? Dafür stehen nicht nur Arbeitsplätze im Lieferantenservice übers Handy und in der boomenden Logistikbranche und Lagerwirtschaft bei Amazon u.a. bereit. Auch sogenannte weltweite Clickworker, die zur Bedienung der Algorithmen unendlich viele Daten ins System immer wieder neu eingeben (clicken). Menschen finden sich hier an einem „digitalisierten Fließband“ wieder: Minutenlöhner in der Cloud; Manchester-Kapitalismus auf eine neue Weise, sagt Sabine Nuss, die über Eigentumsfragen im digitalen Kapitalismus promoviert hat. Durch Technik wird halt der Mensch geteilt und vom Produkt seiner Arbeit entfremdet. Durch digitalisierte Technik wohl noch mehr.