04.02.2021
Heinz-J. Bontrup

Rezension des Buches von Dierk Hirschel: "Das Gift der Ungleichheit"

Der Chef-Ökonom von ver.di und Sozialdemokrat Dierk Hirschel hat ein Buch geschrieben[1], das im Untertitel den Anspruch erhebt „die Gesellschaft vor einem sozial und ökologisch zerstörerischen Kapitalismus schützen zu können.“ Er greift zu Recht den Kapitalismus als Ordnungsform an („Kapitalismus ist ungesund“) und beschreibt, wie neoliberale (marktradikale) Wirtschaftspolitik in den letzten vierzig Jahren praktiziert worden ist.  Umverteilung zu Lasten der abhängig Beschäftigten, Erhöhung der Armutsquote, Plünderung des Sozialstaats und Raubbau an der Natur. Wie konnte es dazu kommen, dass sich aus einem „Rheinischen Nachkriegskapitalismus“ mit einer Umverteilung von oben nach unten ein „Raubtierkapitalismus“ (Helmut Schmidt) entwickeln konnte? Hirschel nennt hier u.a. den „Niedergang der Sozialdemokratie“ und die „Ohnmacht der organisierten Arbeit“ als Ursache für eine heute tief gespaltene Gesellschaft mit unermesslichem Reichtum auf der einen und bitterer Armut und Hoffnungslosigkeit auf der anderen Seite sowie nicht zuletzt eine zerstörte Umwelt.

Trotz des niederschmetternden Befundes, der außerhalb Deutschlands noch niederschmetternder ist, will Dierk Hirschel mit seinem Buch Mut machen, er will aufrütteln für „eine freie, gleiche und solidarische Gesellschaft.“ Bereits im Vorwort seines Werkes schreibt er: „Die gute Nachricht ist: Auch in einem Kapitalismus mit offenen Grenzen, mächtigen Finanzinvestoren und Internetgiganten ist gewerkschaftliche Gegenmacht und sozial-ökologische Reformpolitik noch möglich. Gewerkschaften, Sozialdemokratie, Linke, Umwelt- und Sozialverbände sowie soziale Bewegungen lernen aus ihren Fehlern, erneuern sich und beziehen sich stärker aufeinander. Wenn es ihnen gelingt, sich auf Grundlinien eines sozial-ökologischen Umbaus zu einigen und dafür gesellschaftlich zu mobilisieren, dann ist eine andere Politik möglich.“

Aus Fehlern lernen ist sicher immer gut und auch sich in der Krise zu vereinen (solidarisieren) und zu mobilisieren sollte ein allgemeines Credo sein. Nur geht das alles auch im Kapitalismus, in einem tief widersprüchlichen System, dass letztlich immer nur auf eine maximale Profitrate zur Befriedigung einer kleinen gesellschaftlichen Schicht ausgerichtet ist und sein wird? Hirschel sagt in seinem Buch, ja das geht! Ein „Linkes Bündnis“ könne den „Kapitalismus zähmen“ und ihn sogar „perspektivisch überwinden“. Dazu müsse sich aber die „Linke Parteienfamilie“ zusammenfinden und eine „Linksregierung auf Bundesebene bilden“.

Unter einer „Linksregierung“ versteht Hirschel ein „rot-rot-grünes“ Bündnis, das auf Bundesebene in den letzten 15 Jahren numerisch schon möglich gewesen wäre, aber leider an der „mangelnden Bereitschaft der handelnden Akteure“ gescheitert sei und so muss man hier ergänzen, aufgrund der aktuellen Meinung des Wahlvolkes realiter aber auch nicht mehr gegeben ist. Im Herbst wird das Bündnis eher ein „grün-schwarzes“ sein. Und warum? Nicht nur weil es in Deutschland keine gesellschaftspolitischen Mehrheiten für ein „Linkes Bündnis“ gibt (hier steht der „Zeitgeist“ vielmehr weit rechts), sondern, weil Bündnis90/Die Grünen und die SPD keine Linke Parteien sind, selbst wenn sie auch in ihren Reihen noch ein paar wenige aufrechte Linke zu verzeichnen haben, wozu in der SPD sicher auch Dierk Hirschel zählt. Die Ausrufung von Olaf Scholz als Kanzlerkandidat hat nur einmal mehr deutlich gemacht, dass die SPD immer noch nichts gelernt hat und von Links ganz weit entfernt ist und dies auch für die Grünen gilt. Dies weiß Dierk Hirschel und deshalb schreibt er auch: „Ohne eine außerparlamentarische Bewegung, die eine sozial-ökologische Reformpolitik offensiv einfordert, wird die Berliner Republik auch zukünftig nicht links regiert werden.“ Da aber eine solche wirkmächtige „außerparlamentarische Bewegung“ in Deutschland nicht in Ansätzen vorhanden ist, wird auch in Zukunft nicht links, sondern wirtschaftspolitisch weiter neoliberal in Deutschland regiert werden. Dafür werden schon die Vermögenden im Land sorgen und der Politik den Weg weisen. Die mittlerweile aufgebaute gigantische Macht- und Kapitalkonzentration in einer total globalisierten Weltwirtschaft zu zähmen, wie Hirschel sich das wünscht, wird nicht gelingen. Seine dazu entwickelte Agenda für eine fortschrittliche Politik in Form einer guten Arbeit und gewerkschaftlichen Gegenmacht, dem Ausbau und der Modernisierung des Sozialstaats, einem sozial-ökologischen Umbau, mehr Europa (aber anders als heute) sowie einer Friedenspolitik und humanen Flüchtlingspolitik sind allesamt gute Ansätze, sie reichen aber nicht um die Gesellschaft vom „Gift der Ungleichheit“ zu befreien.

Beim flüssig und gut lesbar geschriebenen Buch weist Dierk Hirschel abschließend noch auf eine notwendige Wirtschaftsdemokratie als eine „reale Utopie“ hin. Hier hätte man sich allerdings mehr Tiefgang und Auseinandersetzung mit den Schriften von Fritz Vilmar und Ota Šik gewünscht. Dies hätte dem Kapitel sicher gutgetan. Auch die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik und deren Arbeit, die seit 1975 durchgängig den neoliberalen Paradigmenwechsel umfänglich kritisiert und viele konkrete Alternativen einer fortschrittlichen Wirtschaftspolitik aufgezeigt hat, um die es auch Hirschel in seinem Werk geht, sind leider im Buch von Dirk Hirschel nicht mit aufgenommen worden. Jedenfalls nicht explizit.    

Links:

  1. https://dietz-verlag.de/isbn/9783801205706/Das-Gift-der-Ungleichheit-Wie-wir-die-Gesellschaft-vor-einem-sozial-und-oekologisch-zerstoererischen-Kapitalismus-schuetzen-koennen-Dierk-Hirschel