05.05.2006

MEMORANDUM '06

Mehr Beschäftigung braucht eine andere Verteilung

Verhaltener Rückschritt in unruhigem Umfeld

Nach einer kurzen Phase der Verunsicherung und Konfusion hat sich die Wirtschafts- und Sozialpolitik in Deutschland im Frühjahr 2006 wieder auf der Linie stabilisiert, die auch die vergangenen zwei Legislaturperioden gekennzeichnet hatte: Verzicht auf gesamtwirtschaftliche Steuerung, Sozialabbau und Umverteilung von unten nach oben. Anfängliche Signale in Richtung unkonventioneller wachstumspolitischer Initiativen und sozialpolitischer Ausgewogenheit haben sich schnell als verbale Übertreibungen oder als bewusste Täuschung erwiesen: Hinter dem mit Getöse verabschiedeten 25-Milliarden-Euro-Investitionspaket kommt in erster Linie ein steuerliches Subventionsprogramm zum Vorschein, von dem keine wesentlichen Wachstums- oder gar Beschäftigungsimpulse ausgehen werden. Die "Ausgewogenheit" zwischen Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen bei der Haushaltskonsolidierung erweist sich als Vertiefung des alten Ungleichgewichts zu Lasten der unteren Einkommensschichten: Ihre Belastung durch Kürzung vor allem der Sozialleistungen - wie z.B. durch die jüngst beschlossene weitere Absenkung des Arbeitslosengeldes II um ein Fünftel für Arbeitslose unter 25 Jahren - wird durch die für 2007 beschlossene Mehrwertsteuererhöhung zusätzlich steigen. Wo neuen Mitgliedern der Bundesregierung mit der Unschuld des gesunden Menschenverstandes noch vernünftige Gedanken entfahren sind - wie der über die Notwendigkeit kräftiger Lohnsteigerungen zur Stärkung der Binnennachfrage -, wurden sie unter entsetztem und empörten Protest der Unternehmerverbände sowie der Mehrheit der Medien und der Wissenschaft begraben; mittlerweile sind sie verschwunden.

Die Bundesregierung verbindet diese fatale wirtschaftspolitische Kontinuität, die auch im jüngsten Jahreswirtschaftsbericht zum Ausdruck kommt, mit einer abenteuerlichen konjunkturpolitischen Perspektive: Sie hofft offenbar, dass die nach wie vor kräftige weltwirtschaftliche Konjunktur die Ausfuhren des Exportweltmeisters Deutschland erneut steigern und dies die anhaltende Schwäche der Binnennachfrage mehr als ausgleichen und der Konjunktur wenigstens einen kleinen Impuls geben wird. Gleichzeitig sorgt sie jedoch dafür, dass dieser Impuls, selbst wenn er zustande käme, im kommenden Jahr durch die Erhöhung der Mehrwertsteuererhöhung brutal abgewürgt werden würde. Die Konstellation von zunehmend ungleicherer Einkommensverteilung, schwachem Wirtschaftswachstum und steigender Arbeitslosigkeit verfestigt sich weiter. Sie kann nur durch energisches wirtschaftspolitisches Gegensteuern aufgebrochen werden. Dazu ist die neue Bundesregierung ebenso wenig bereit wie es die alte war.