11.10.2019
Tobias Kröll

TINA und Greta: "Unite behind the science, but not behind neoclassical economics!"

Offener Brief an Nikolaus Piper (Süddeutsche Zeitung) von Tobias Kröll (Scientists for Future, Tübingen)

Sehr geehrter Herr Piper,

auf Ihrer Webseite schreiben Sie zu Ihren Ansprüchen an Journalismus: »Wir in der Redaktion schreiben für den "gebildeten Laien". Das bedeutet, wir müssen so schreiben, dass es jemand versteht, der nicht Wirtschaft studiert hat und der nicht Manager in einer Firma ist. Allerdings sind einige Dinge wirklich so kompliziert, dass sie nicht jeder verstehen wird«. Diesen Anspruch an die eigene Arbeit finde ich hervorragend! Viele wirtschaftliche Zusammenhänge werden tatsächlich – vor allem von Ökonomen der modernen, bzw. neoklassischen ökonomischen Theorie – unnötig mittels mathematischer Formeln verkompliziert, so dass Laien hochachtungsvoll vor den scheinbar alternativlosen „wissenschaftlichen Fakten“ verstummen. Ein herausragendes Beispiel ist die Glorifizierung und Rechtfertigung bedingungslosen globalen Freihandels mittels des weltfremden Ricardo-Theorems, dessen Variablen genau so gewählt wurden, dass das gewünschte Ergebnis herauskommt.  Das Ricardo-Theorem ist eine der wichtigsten Säulen einer Wirtschaftspolitik, die von Gegner*innen mit dem politischen Schlagwort TINA-Prinzip charakterisiert wird. Laut Wikipedia wird damit »ein Standpunkt bezeichnet, der geltend macht, dass es zu einer auf den Markt, insbesondere auf die Wettbewerbsfähigkeit, ausgerichteten Politik keine Alternative gebe. TINA ist dabei eine Abkürzung, basierend auf den Anfangsbuchstaben der englischen Aussage „there is no alternative“, „Es gibt keine Alternative“.

Zunächst möchte ich Ihnen, Herr Piper,  aber für Ihre deutlichen Worte bezüglich des Klimawandels danken, die Sie in dem zu Jahresbeginn erschienenen Buch „Wir Untertanen“ gewählt haben! Sie schreiben: »Das dramatischste Beispiel für eine Filterblase, in der unbequeme Fakten nicht zur Kenntnis genommen werden, ist der Umgang mit dem Thema Klimawandel. Dass sich die Erde erwärmt, kann man sehen und vor allem messen, an den Fakten gibt es nicht den geringsten Zweifel. Über die Tatsache, dass dieser Klimawandel menschengemacht ist und mit dem steigenden Anteil von Kohlendioxid in der Atmosphäre seit der industriellen Revolution zu tun hat, sind sich nicht alle, aber fast alle Fachwissenschaftler einig. Aber das sind eben sehr unbequeme Nachrichten. Nimmt man sie ernst, müssten sehr viele Menschen ihren Lebensstil ändern, und nicht nur in den Industrieländern«. (S. 59) Sie schreiben, dass heute »theoretisch alle relevanten Informationen für jedermann zugänglich« sind (S. 68). Aber viele Menschen würden sich weigern, diese Informationen zur Kenntnis zu nehmen. Schaut man zu Ihrer obigen Aussage zum Klimawandel bei Wikipedia nach, dann ist dort zu lesen: »Die industrielle Revolution war mit grundlegenden Veränderungen im wirtschaftlichen Bereich verbunden, die in dem Ausdruck Kapitalismus begrifflich zusammengefasst wurden«. Vor diesem Hintergrund verwundert die Überschrift Ihrer Kolumne vom 29. Juli diesen Jahres in der Süddeutschen Zeitung: „Warum der Kapitalismus nicht schuld am Klimawandel ist“. In dem Text finde ich dann auch keine Begründung zur Aussage in der Überschrift. Sie schreiben stattdessen: »Wenn sehr viele Menschen glauben, die Klimakrise sei ein Produkt des Kapitalismus, lohnt ein Rückblick auf die Debatte über die Grenzen des Wachstums, die 1972 mit dem berühmten "Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit" begann. Was heute schwer vorstellbar ist: Der Bericht wurde unter den Antikapitalisten der damaligen Zeit nicht besonders freundlich aufgenommen«. Sie beziehen sich anschließend auf die abstrusen Argumente von DDR-Ideologen aus den 1970er Jahren: Wachstumskritik sei eine »reaktionäre, fortschrittsfeindliche Haltung« und »Ausdruck der tiefen Krise imperialistischer Politik und Ideologie«. Realsozialisten behaupteten demnach, geringes Tempo (der wirtschaftlichen Entwicklung, T.K.) und Stagnation wurden im seinerzeitigen Kapitalismus plötzlich als die eigentlich erwünschte Ziele ausgegeben, da im Kapitalismus die wirtschaftspolitischen Ziele nie erreicht wurden und die Entwicklung der Wirtschaft in den sozialistischen Ländern bedeutend schneller vor sich gehe. Systemkritik führe eben manchmal zu grotesken Ergebnissen, schreiben Sie richtigerweise, und: »Heute würde nicht einmal die DKP so argumentieren«.  Umso mehr wundere ich mich, dass Sie, Herr Piper, genau diese haarsträubenden Argumente aus der DDR übernehmen, um Sie heutigen Kapitalismus-Kritiker*innen entgegen zu stellen. Die Logik Ihrer „Argumentation“ verstehe ich beim besten Willen nicht.

Sie zitieren zu Beginn Ihrer Kolumne Parolen, die Sie bei „Fridays for Future“ (FFF) - Demonstrationen gesehen haben: "Change the System, not the Climate" oder auf einer Aachener Demo: "Burn Capitalism, not Coal" und Sie fragen sich, was mit dem brennenden Kapitalismus gemeint sei, und was an dessen Stelle treten solle.  Da der Kapitalismus („seit der industriellen Revolution“) offensichtlich eine wesentliche Ursache des Klimawandels ist –wie sich aus Ihrem Buch schließen lässt –  finde ich es durchaus überlegenswert, ein anderes Wirtschaftssystem anzustreben, wie es auch Greta Thunberg fordert und dazu Grundwerte nennt: z.B. Kooperation statt Konkurrenz, faires Teilen der Ressourcen, Konzentration auf Gerechtigkeit und eine Abkehr von dem im Kapitalismus üblichen Lebensstil, wie Sie es in obigem Zitat bezüglich der ernst zu nehmenden „unbequemen Nachrichten“ geschrieben haben. Thunberg weiter: »Wir müssen anfangen, innerhalb der Grenzen des Planeten zu leben, uns auf Gerechtigkeit zu konzentrieren und zum Wohle aller lebenden Spezies ein paar Schritte zurück machen. Wir müssen die Biosphäre schützen. Die Luft, Die Meere, Die Wälder. Den Boden«. Die FFF-Parolen zeigten, wie sehr der antikapitalistische Zeitgeist die junge Generation erfasst habe, schreiben Sie. Zu Ihrer Information: das mit dem brennenden Kapitalismus ist ein Wortspiel hinsichtlich der angestrebten Förderung von Braunkohle im Hambacher Forst und nicht wörtlich zu nehmen. Die notwendige Änderung des Lebensstils „sehr vieler Menschen“, die Sie erwähnen, lässt sich meines Erachtens nur durch eine radikale Abkehr vom bisherigen Wirtschaftssystem und seiner zugrundeliegenden wirtschaftsliberalen „Wissenschaft“ umsetzen. Greta Thunbergs Forderung „Unite behind the science“ (vereint hinter der Wissenschaft) benötigt deshalb die Ergänzung „aber nicht hinter der neoklassischen Wirtschaftswissenschaft“! Auch Greta Thunberg forderte in Ihrer Brüsseler Rede dieses Jahr eine neue Denkweise in den Wirtschaftswissenschaften (»We need new economics«).

Sie schreiben: dass man heute, da CO₂ das alles überragende Thema geworden sei, viel aus der beginnenden Wachstumskritik aus den 1970er Jahren  lernen könne. Vor allem helfe dies, »der Trivialisierung des Themas entgegenzutreten«. Bei dieser Gelegenheit erinnern Sie an Nicholas Georgescu-Roegen, der die Grenzen des Wachstums besonders radikal gedacht habe. Schon 1993 schrieben Sie, in einer ZEIT-Serie über Ökonomen: »Auf jeden Fall hat Georgescu-Roegen die Ökonomie auf einen epochalen Wechsel der Sichtweise vorbereitet: Es kommt nicht darauf an, den Wohlstand zu mehren, sondern den Schaden zu minimieren, den wir unseren Lebensgrundlagen zufügen“! Tatsächlich sei heute effektive Klimapolitik nur auf globaler Ebene und in internationaler Kooperation möglich – was eigentlich selbsterklärend sei, schreiben Sie in Ihrem aktuellen Buch (S. 84).  Rätselhaft ist mir deshalb, warum Sie sich dann auf dieser Basis gegen die „Degrowth-Bewegung“ wenden und stattdessen für den Weg des Gründungsvaters der neoliberalen Internationale, Friedrich August von Hayek, plädieren: »der Markt als Entdeckungsverfahren versetzt die Menschen in die Lage, umweltfreundlich zu handeln« (S. 82). Sie beklagen, dass viele Kritiker der Marktwirtschaft glauben, der Kapitalismus sei schuld am Klimawandel. Wahr sei: unter kapitalistischen Bedingungen haben die Menschen beispiellosen Wohlstand geschaffen (S. 84). Mit Verlaub: Das steht schon im Manifest der Kommunistischen Partei von 1848. Dort werden die Errungenschaften des Kapitalismus gewürdigt. Allerdings werden die Kapitalist*innen („Bourgeoisie“) dort auch mit Zauberlehrlingen verglichen, die die unterirdischen Gewalten nicht mehr zu beherrschen vermögen, die sie einst heraufbeschworen. Sie schreiben richtigerweise: »Der Preis des Wohlstands („unter kapitalistischen Bedingungen“, T.K.) war die Anreicherung von Kohlendioxid in der Atmosphäre. Wie hoch der ist und was er für das Weltklima bedeutet, weiß man erst seit Mitte der 1970er Jahre. Die Umkehr ist ein Lernprozess, bei dem die Politik wissenschaftlich begründete Vorgaben formulieren muss«. Mit Verlaub, Herr Piper. Seither sind über 40 Jahre vergangen. Viele der Eltern heutiger Fridays-for Future- Aktivist*innen waren damals noch nicht einmal geboren! Sie schrieben schon vor 26 Jahren von der Bedeutung der Kritik Georgescu-Roegens, den Sie in Ihrem aktuellen Buch mit keinem Wort erwähnen. Dies kritisierte ich in meinem Essay „Die Zerstörungen der Wirtschaftswissenschaften“ Ende Juni auf der Webseite der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik. Es mag Zufall sein, aber erst in Ihrer Kolumne vom 29. Juli, einen Monat nach meiner Kritik, schreiben Sie erstmals seit Jahren wieder (allerdings sehr kurz und damit insgesamt hinter Ihren Text von 1993 zurückfallend) über Georgescu-Roegen: »Der Ökonom glaubte nicht, dass man das Problem so einfach über den Markt lösen kann, denn ein wesentlicher Teil der notwendigen Teilnehmer dieses Marktes, die künftigen Generationen, ist noch nicht geboren oder zumindest noch nicht geschäftstüchtig. Ohne Markt geht es aber auch nicht, wie die Umweltzerstörung in den sozialistischen Ländern gezeigt hat«. Es sei „an der Zeit, sich den Problemen schonungslos zu stellen“, schreiben Sie nun richtigerweise und weiter: »Georgescu-Roegen selbst wollte der Welt ein `bioökonomisches Minimalprogramm´ verordnen« und fragen: »Wer sollte so ein Programm auch durchsetzen? Ein Weltdiktator?« Trotzdem sei es, umso wichtiger, so der letzte Satz in Ihrer Juli-Kolumne,  »sich den Problemen so schonungslos zu stellen, wie er das getan hat«. Dazu gehört meines Erachtens selbstverständlich auch, die späteren Schriften Georgescu-Roegens zum Thema zu lesen und „seine Hausaufgaben zu machen“, wie Greta Thunberg es wohl formulieren würde. Zum Beispiel wurde der Band „The Entropy Law and the Economic Process“ nicht erst 1975 veröffentlicht, wie Sie schreiben, sondern 1971, basierend auf Georgescu-Roegens schon 1966 erschienenem Buch „Analytical Economics“ (Georgescu-Roegen 1987; S. 4). Auf Grund der Reaktionen seiner Fachkollegen sah sich Georgescu-Roegen im Anschluss daran genötigt, mit der Schrift „The Entropy Law and the Economic Process in Retrospect“ (Entropiegesetz und ökonomischer Prozess im Rückblick, 1987) notwendigerweise einige strittige Punkte zu klären. Somit hätte letztere Schrift wohl vorrangig die Berechtigung, als Georgescu-Roegens „Hauptwerk“ bezeichnet zu werden. Sein bio-ökonomisches Minimalprogramm“, so schreibt er (1987, S. 22), sei eine Antwort auf die „jüngst entstandenen Rufe“ nach einem neuen Paradigma. Georgescu-Roegen fordert darin mitnichten einen „Weltdiktator“, Herr Piper:

»Mein Programm fordert (..) ein neues Gebot der Humanität, das neben anderen Geboten, dazu führt, nicht nur Kriege, sondern auch jede Art von Waffenproduktion zu ächten, um die dadurch frei werdende Energie und Materie zugunsten eines humanen Lebensstandards der unterentwickelten Nationen einzusetzen. Die Menschen in den Überflussgesellschaften müssten nur auf ihre Begierde nach oberflächlichen technischen Spielereien verzichten, wie beispielsweise auf Autos, die von 0 auf 100 beschleunigen, noch bevor der Zigarettenanzünder glüht. (…)

Mein Vorschlag bringt zugleich das schicksalsschwerste Problem der Menschheit zum Vorschein. Die schwierige Aufgabe, mit der Energie zu haushalten (oder sie zu erhalten, wie man das gewöhnlich nennt), kann weder von einer noch von einigen wenigen Nationen bewältigt werden. Sie erfordert die Kooperation aller Nationen. Dieses Faktum lässt eine weit schrecklichere Krise erkennen, als es die Energiekrise ist: Die Krise der Klugheit des homo sapiens sapiens«

Niemand kann sagen, man hätte es nicht wissen können. Herr Piper, Sie schreiben, dass die sozialliberale Koalition 1982 zwar am neoliberalen Lambsdorff-Papier zerbrach, die Wirtschaftspolitik nach der „geistig-moralischen Wende Helmut Kohls sich jedoch nur geringfügig von der seines Vorgängers Helmut Schmidt unterschied. Auch neoliberale Umgestaltungen der Rahmenbedingungen brauchen Zeit. Hayek veranschlagte nach dem 2. Weltkrieg 2-3 Generationen dafür. Sein Kollege Milton Friedman (2000) lobte später die „Reform-Politik“ unter Gerhard Schröder und Vize-Kanzler Joschka Fischer:

»Die jetzigen Reformen entsprechen eigentlich perfekt den Ideen der Regierung Kohl. Und dennoch musste erst Gerhard Schröder kommen, um sie durchzusetzen«.

Zu denken geben mir nun zwei Zitate des scheidenden Kanzlers Helmut Schmidt aus dem Jahre 1982. Zum Scheidungspapier der sozialliberalen Koalition, der neoliberalen „Denkschrift“ Lambsdorff-Papier sagt Schmidt am 17.September:

»Sie [die Denkschrift, T.K. ] will in der Tat eine Wende, und zwar eine Abwendung vom demokratischen Sozialstaat im Sinne des Art. 20 unseres Grundgesetzes und eine Hinwendung zur Ellenbogengesellschaft«

Zwei Wochen später sagte Schmidt in einer Bundestags-Debatte zur „geistig-moralischen Wende“ Kohls und der F.D.P.:

»Will eigentlich die FDP-Führung ihr umweltpolitisches Programm völlig vergessen? Der Schutz der natürlichen Umwelt bedarf auch internationaler Anstrengungen. Er bedarf der Verträge, wenn die Ausrottung der Fischbestände in den Weltmeeren, wenn die Anreicherung der Atmosphäre mit Kohlendioxid und wenn die Ausbreitung des schwefelsauren Regens tatsächlich verhindert werden sollen«.

Seither sind 37 Jahre vergangen. Was haben in dieser Zeit „die Märkte“ entdeckt um soziale und ökologische Probleme zu lösen, Herr Piper? Somit bleibt hinsichtlich der aktuellen Krisen die Forderung: vereint Euch hinter der Wissenschaft, aber nicht hinter der neoklassischen Volkswirtschaftslehre!

„Unite behind the science, but not behind neoclassical economics!“

Literatur:

Friedman, Milton 2000: „Alle Steuern sind zu hoch“, Interview in Der Spiegel 41/2000, S. 128-132.

Georgescu-Roegen, Nicholas: „The Entropy Law and the Economic Process in Retrospect. (Entropiegesetz und ökonomischer Prozess im Rückblick) Institut für Ökologische Wirtschaftsforschung: Schriftenreihe des IÖW 5/87. Berlin; Download

Piper, Nikolaus 2019a: Wir Untertanen, Wie wir unsere Freiheit aufgeben, ohne es zu merken. Hamburg bei Reinbek (sic!): Rowohlt

Piper, Nikolaus 2019b: Warum der Kapitalismus nicht schuld ist am Klimawandel; Süddeutsche Zeitung.

Schmidt, Helmut 1982a, in: Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 115. Sitzung, Bonn, Freitag, den 17. September 1982

Schmidt, Helmut 1982b, in: Deutscher Bundestag 1982b: Stenographischer Bericht, 118. Sitzung; Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1982

Thunberg, Greta 2019: Speech, delivered during the EESC event „Civil Society for rEUnaissance” on 21/02/2019;

            https://www.eesc.europa.eu/en/avdb/video/speech-greta-thunberg-climate-activist; aufgerufen am 29.07.2019

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Aktuelles aus der AG Alternative Wirtschaftspolitik