23.05.2024
Uwe Foullong

75 Jahre Grundgesetz

Im Spannungsverhältnis zwischen Markt und Allgemeinwohl

Der Geburtstag des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 gibt Anlass, sich zum einen auf seinen Ursprung zu besinnen und zum zweiten auf seine Wirkungen für die Menschen zu schauen.

Ein Eckpfeiler des Grundgesetzes: Nie wieder Faschismus – nie wieder Krieg

Der Ursprung des Grundgesetzes liegt in der Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus durch die Alliierten, in der Befreiung von Faschismus, Diktatur, Rassenwahn und Krieg. Das Grundgesetz begründete am 23. Mai 1949 nach einem intensiven Prozess der Erarbeitung im Parlamentarischen Rat die Bundesrepublik Deutschland (BRD). Es beinhaltet Freiheit, Demokratie, Förderalismus sowie die Proklamierung von Menschenrechten. Ein ganz wesentlicher Grundsatz dabei lautet: Nie wieder Faschismus – nie wieder Krieg.

Angesichts der aktuellen Entwicklungen mit Blick auf das Erstarken rechtspopulistischer und rechtsextremer Kräfte im Lande, bei dem die AfD ein deutlich sichtbarer Akteur unter mehreren anderen ist, gewinnt das Grundgesetz und seine Bewahrung eine neue, sehr hohe Bedeutung. Der Kampf gegen Rechtsextremismus wird zum Alltag, um Demokratie, Vielfalt, Toleranz und Grundrechte zu bewahren.

Soziale Marktwirtschaft und Sozialstaat als Alternative zum Sozialismus?

Beim Blick auf die Entwicklung der Lebensverhältnisse der Menschen ist vor allem die wirtschaftliche Entwicklung und die Verfasstheit der Wirtschaft zu betrachten. Das Grundgesetz wird allgemein mit dem Begriff der „sozialen Marktwirtschaft“ und des „Sozialstaates“ in Verbindung gebracht, ohne dass diese Begriffe im Grundgesetz ausdrücklich enthalten sind. Und so ist im Grundgesetz auch keine Wirtschaftsordnung explizit bestimmt. Es legt unwiderruflich Grundrechte fest wie z.B. die Gewährleistung des Eigentums (Art. 14, Abs. 1). Gleichzeitig manifestiert es die Sozialpflichtigkeit des Eigentums (Art. 14, Abs. 2), regelt Enteignungen zum Wohle der Allgemeinheit (Art. 14, Abs. 3) sowie Vergesellschaftung von Grund und Boden, Naturschätzen und Produktionsmitteln (Art. 15).

Der Begriff der „sozialen Marktwirtschaft“ gilt seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland (BRD) im Mai 1949 als positive Bezeichnung für das „kapitalistische“ Wirtschaftssystem, das sich in der Systemkonkurrenz gegen das sozialistische System profilieren musste. Neben öffentlichen Unternehmen existierten vor allem private Unternehmen, die gewinnorientiert ausgerichtet sind.
Dieses aus öffentlichen und privaten Unternehmen gemischte Wirtschaftssystem produzierte jährlich einen immer höheren Wohlstand. Mit einer aktiven Wirtschafts- und Sozialpolitik sorgten die Regierungen lange Zeit für die Verteilung des wachsenden Wohlstandes auf alle - im Prinzip bis 1990.

Deutsche Einheit: Grundgesetz auf Ostdeutschland ausgedehnt, aber Sozialstaat demontiert

Die neunziger Jahre begründeten mit dem Wegfall der Systemkonkurrenz schleichend eine Zeitenwende. Immer mehr private Unternehmen, vor allem Großunternehmen und Konzerne, konzentrierten sich im Wesentlichen auf die Gewinnerwirtschaftung. Profitmaximierung als oberstes Ziel bestimmt die wirtschaftlichen Entscheidungen der Unternehmer:innen. Das Prinzip des „lean production“ oder des „lean banking“ sorgte für krasses Kosten(senkungs)management, bei dem auch die Personalkosten unter Druck gesetzt wurden. Die Systemkonkurrenz zwischen Kapitalismus und real existierendem Sozialismus wurde in den 90er Jahren abgelöst durch eine zunehmende Globalisierung, eine immer radikalere renditeorientierte Unternehmenspolitik sowie wachsende spekulativ ausgerichtete Finanzmärkte. Die Kräfte des Marktes wurden mit dem „Sieg“ des Kapitalismus über den Sozialismus ideologisch gefeiert. Mit dem Kampfbegriff „Mehr Markt – weniger Staat“ und den „Selbstheilungskräften des Marktes“ wurde der Begriff „Sozialstaat“ nach der Jahrtausendwende zunehmend ideologisch bekämpft, Gewerkschaften als Dinosaurier tituliert und eine aktive, auf Nachfragestärkung ausgerichtete Wirtschaftspolitik als nicht markt- und wettbewerbskonform diskreditiert.

Damit führte die vorherrschende Politik seit der Jahrtausendwende bis heute zu einer  gesellschaftlichen Spaltung, in der auf der einen Seite die Armut steigt und immer mehr Menschen nicht wissen, wie sie über die Runden kommen sollen, auf der anderen Seite Gewinne und Kapitalrenditen teils explodieren. Auf der einen Seite Vorstandsbezüge und Boni in unangemessene Höhen schnellen, auf der anderen Seite Stellen gestrichen und ausgelagert werden sowie Gehälter unter Druck gesetzt und Tarifbindungen drastisch abgebaut werden.

Auf der einen Seite der Staat mit seinen Steuereinnahmen Infrastruktur, Erziehung und Bildung, Gesundheit und bezahlbares Wohnen nicht mehr angemessen finanzieren kann – auf der anderen Seite das private Vermögen jährlich deutlich ansteigt und hochkonzentriert in der Hand nur weniger Familien liegt. Auf der einen Seite der Staat die Wirtschaft mit Subventionen, Steuersenkungen und Privatisierungen öffentlicher Bereiche immer mehr bei der Gewinnerzielung unterstützt, auf der anderen Seite die Bürger:innen verunsichert, wenn z.B. der vermeintliche Zwang zum Sparen und Kürzen realisiert wird, der die Lebensverhältnisse der Bürger:innen verschlechtert.

Auf der einen Seite gibt es zwar immer noch sehr viele Menschen, die sich in Umfragen grundsätzlich zufrieden äußern. Auf der anderen Seite aber gibt es immer mehr Menschen, die sich ungerecht behandelt und abgehängt fühlen, obwohl der Reichtum der Volkswirtschaft jedes Jahr weiterwächst. Und immer mehr Menschen haben Sorge oder sogar Ängste, abgehängt zu werden.

Es mag makaber klingen: Aber mit der deutschen Einheit, mit dem Anschluss der DDR an die BRD und der entsprechenden Ausdehnung des Grundgesetzes auf die damals neuen ostdeutschen Bundesländer (dort besteht das Grundgesetz nun seit 33 Jahren und 8 Monaten) begann eine wirtschaftliche und soziale Entwicklung, die nicht mehr das Allgemeinwohl primär beinhaltet, sondern bei der im Gegenteil die radikalen Marktkräfte immer mehr zur Geltung gebracht wurden.

Diese Politik der letzten 30 Jahre hat ganz wesentlich zur Entwicklung der „Zwei-Drittel-Gesellschaft“ sowie dem Erstarken des Rechtspopulismus und Rechtsextremismus beigetragen.  

Grundgesetz als Auftrag zu einer dem Allgemeinwohl dienenden Politik

Das Grundgesetz regelt insbesondere die demokratische, föderale Verfassung unseres Staates sowie Grund- und Menschenrechte. In der Wirtschafts- und Sozialpolitik regelt es die Grundlagen für viele verschiedene Möglichkeiten der Ausgestaltung.

Bei der Fortsetzung der bisherigen Wirtschafts- und Sozialpolitik mit sturer Schuldenbremse und einseitiger angebotsorientierter Wirtschaftspolitik droht die Vertiefung der Spaltung der Gesellschaft in einerseits arm und abgehängt bzw. mäßig verdienend und andererseits reich bzw. superreich bei weiteren Einschränkungen des Sozialstaates zugunsten der Profitorientierung privater Unternehmen und Konzerne. Der Mittelstand würde dabei weiter zerbröseln. Das wäre die Grundlage für weitere soziale Ausgrenzungen sowie die Verbreitung von Hass und Hetze – eine zunehmend bedrohliche Entwicklung.

Aber das Grundgesetz lässt auch eine gänzlich andere Wirtschafts- und Sozialpolitik zu. Die Regelungen zur Sozialpflichtigkeit des Eigentums sowie die zur Vergesellschaftung von Unternehmen lassen eine wirtschaftsdemokratische Ordnung zu, in der der erwirtschaftete Reichtum annähernd gerecht verteilt wird, sodass Armut drastisch abgebaut werden kann, dass soziale Sicherheit in der Breite der Gesellschaft wachsen kann und dass die Lebensbedingungen der meisten Menschen verbessert werden können. Hierzu seien einige Beispiele genannt, die einen grundlegenden Richtungswechsel markieren würden.

Sozialpflichtigkeit des Eigentums

Das Prinzip der Sozialpflichtigkeit des Eigentums beschreibt die soziale Verantwortung der Kapitaleigner bzw. Investoren gegenüber ihren Beschäftigten und der Gesellschaft insgesamt. Für das ganz praktische Handeln bedeutet dies, dass Investoren nicht das machen können, was sie allein für richtig halten, sondern dass auch soziale Aspekte immer zu beachten sind. Konkret sollte dieses Prinzip ausgefüllt werden z.B. durch

  • ein gesetzlich zu regelndes Verbot betriebsbedingter Kündigungen, wenn Unternehmen Gewinne machen. Es ist grundgesetzlich nicht vertretbar, dass Investoren bzw. Eigentümer:innen Beschäftigte entlassen oder auch nur mit Entlassung, d.h. dem Entzug der Existenzgrundlage, drohen, wenn ihre Investitionen zu Gewinnen führen. Das Verbot betriebsbedingter Kündigungen bei Gewinnen kann ganz einfach im Kündigungsschutz- und Betriebsverfassungsgesetz geregelt werden.
  • Die Mitbestimmungsrechte von Beschäftigten, Betriebs- und Personalräten sowie Gewerkschaften sollten erweitert werden, um im Kern sicher zu stellen, dass Eigentümer keine Entscheidung gegen die Beschäftigten treffen können. Mindestens ist eine echte Parität in Betrieben und Unternehmen für alle Entscheidungen einzurichten mit einem fairen Lösungsmechanismus im Falle der Parität.
  • Über die Ausweitung der Mitbestimmungsrechte auf betrieblicher und Unternehmensebene hinausgehend ist ein System der Wirtschaftsdemokratie zu generieren, in dem Wirtschafts- und Sozialräte die entsprechende Entwicklung in ihrer Region beobachten, analysieren und Rahmenbedingungen für eine gute Zukunftsentwicklung entwickeln. Die Räte sind demokratisch aus allen Beteiligten der Region von Wirtschaft und Gesellschaft zusammengesetzt, sodass auf diese Weise das Allgemeinwohl zum Zuge kommen kann.
  • zur Entwicklung einer wirtschaftsdemokratischen Ordnung gehört auch die Förderung und Unterstützung von Genossenschaften bzw. dem gesamten gemeinwohlorientierten Wirtschaftsbereich. Hier gibt es viele Unternehmen, die unter Beachtung von Zielen zur Steigerung des Allgemeinwohls wirtschaften.

Bei dem grundgesetzlichen Prinzip der Sozialpflichtigkeit des Eigentums ist die Tatsache bedeutend, dass Investoren bzw. Unternehmer:innen keine Rentabilität, keine Vermehrung ihres Kapitals erleben würden, wenn Beschäftigte nicht dafür arbeiten würden. Kapital ohne Arbeit ist tot. Weil Investoren auf die Arbeit der Beschäftigten angewiesen sind, damit sich Kapital „rentiert“, ist die Übermacht der Eigentümer:innen bzw. Investoren bei den wirtschaftlichen und sozialen Entscheidungen nicht legitimiert. Das Grundgesetz gibt mit der Sozialpflichtigkeit des Eigentums geradezu den Auftrag für eine möglichst weitgehende Existenzsicherung der Beschäftigten sowie wirklich gleichberechtigte Teilhabe an Entscheidungen im Betrieb und Unternehmen bzw. Konzern.

Der Staat als handlungsfähiger Akteur zur Entfaltung des Allgemeinwohls

Das Allgemeinwohl als Grundlage der Politik, insbesondere der Wirtschafts- und Sozialpolitik, erfordert, dass der Staat auch handlungsfähig ist. Bund, Länder und Gemeinden bzw. Städte benötigen ausreichend Einnahmen, um das Allgemeinwohl sicher zu stellen.

Und wenn es seit geraumer Zeit erhebliche Probleme gibt mit fehlendem bezahlbaren Wohnraum, mangelhafter Infrastruktur, Missstände im Erziehungs- und Bildungs- sowie Gesundheitsbereich und die Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft angesichts des Klimawandels sozial gestaltet werden soll, dann ist es ganz offensichtlich, dass die derzeitigen Steuereinnahmen in Höhe von mehr als 900 Mrd. Euro bei weitem nicht ausreichen, um auch nur ein angemessenes Fundament für die Entwicklung des Allgemeinwohls zu schaffen. Die Schuldenbremse wirkt als Zukunftsbremse und die öffentliche Armut ist angesichts des enormen privaten Reichtums, der bei nur wenigen Familien hochkonzentriert angesiedelt ist, ein Skandal.

Die Abschaffung der Schuldenbremse und eine gerechte Besteuerung insbesondere der hohen Einkommen sowie der Millionen- und Milliardenvermögen liegt im Allgemeinwohl, weil es nicht nur der sozialen Gerechtigkeit dient, sondern auch den Staat im Interesse der Allgemeinheit handlungsfähig macht.

Neben einer gerechten Steuerpolitik sollte der Staat bei der Erteilung von Subventionen nach dem Prinzip „Fördern und fordern“ vorgehen. Subventionen für bestimmte Wirtschaftsbereiche können durchaus sinnvoll sein. Wenn eine Regierung sich dafür entscheidet, dann sollte sie auch die Möglichkeit des Rückflusses regeln. Subventionen werden schließlich erteilt, damit das betroffene Unternehmen Gewinne erwirtschaftet. Und wenn das gelingt, dann kann das Unternehmen aus diesen Gewinnen den Subventionsbetrag ratenweise zurückerstatten. Es ist nicht nachvollziehbar, wenn die Risiken eines Unternehmens in einer schwierigen Wirtschaftslage sozialisiert werden, aber die späteren Gewinne privatisiert bleiben. Dieses Prinzip „Fördern und (zurück) fordern“ muss auch für die Forschungsförderung gelten. Wenn Wissenschaftler, die mit öffentlichen Geldern erfolgreich geforscht haben, diese Forschungsergebnisse mit der Gründung eines Unternehmens erfolgreich vermarkten, sollten sie ratierlich die Fördersumme aus den Gewinnen an die Allgemeinheit zurück führen. So betrachtet können Subventionen und Forschungsförderungen win-win-Situationen für alle Beteiligten herbeiführen.

Auch Vergesellschaftung dient grundsätzlich dem Allgemeinwohl. Wenn man hier das Prinzip zugrunde legt, dass elementare Bereiche der Daseinsvorsorge, der Existenzsicherung der Menschen, nicht dem Prinzip der Gewinnmaximierung unterliegen sollten, dann gehören Wohnungen und Energieerzeugung nicht in die Hand von Konzernen, dann dürfen mit Krankheit und Alter keine Gewinne erzielt werden.

Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik hat seit ihrer Gründung im Jahre 1975 (im nächsten Jahr steht das 50jährige Jubiläum an) immer wieder insbesondere in ihren jährlichen Memoranden zentrale Aspekte einer grundgesetzlich fundierten Wirtschaftspolitik im Interesse des Allgemeinwohls wie der nachfrageorientierten, qualitativen Wohlstandsmehrung und gerechten Verteilung sowie mehr Mitbestimmung und Wirtschaftsdemokratie ausgearbeitet.

Am 23. Mai wird nun der 75jährige Jahrestag des Grundgesetzes gefeiert, das vielfach als eines der fortschrittlichsten und sozialsten Verfassungen einer Demokratie bezeichnet wird. Allerdings klafft unter dem Aspekt der Entwicklung des Allgemeinwohls zwischen Verfassungsinhalten und Verfassungswirklichkeit seit den letzten 30 Jahren eine immer größer gewordene Lücke. Diese zu schließen bleibt eine große Herausforderung. Der Jubiläumstag ist geeignet, neben dem Feiern daran zu erinnern.

Veröffentlichungen unserer Mitglieder
Aktuelles aus der AG Alternative Wirtschaftspolitik