3. Oktober – Tag der Wiedervereinigung?
Erstveröffentlichung in: Das Blättchen Nr. 15/2025 vom 8. September 2025, S. 3-4.
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Am 3. Oktober 2025 begehen wir den 35. Jahrestag der deutschen Einheit. Aber was genau wird hier eigentlich gefeiert? Der Untergang der DDR und das Ende des Staatssozialismus auf deutschem Boden? Die Wende in der DDR und in den Beziehungen zwischen Ost und West? Der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 23 des Grundgesetzes? Der Anschluss der ostdeutschen Bundesländer an die BRD? Die Übernahme Ostdeutschlands durch die westdeutsche Bundesrepublik und den Beginn einer „neuen Ostkolonisation“? Die Kolonialisierung der DDR und die Begründung einer „Kolonie im eigenen Land“? Der „Tag X“ und die Wiedervereinigung Deutschlands nach der Teilung des Landes durch die Alliierten infolge des Zweiten Weltkriegs? Die Vereinigung oder Fusion der beiden deutschen Staaten „in Frieden und Freiheit“ und „freier Selbstbestimmung“, wie es im Einigungsvertrag vom 31. August 1990 heißt? – Ganz sicher ließen sich weitere Antworten finden. Die genannten aber sollen genügen, um zu demonstrieren, wie unterschiedlich der 3. Oktober 1990 bis heute interpretiert wird und was die Wahl der Begriffe jeweils über die Geisteshaltung und die politische Verortung der Autoren und Protagonisten verrät.
Dabei fallen einige markante Veränderungen im Zeitverlauf, Auslassungen und Verschiebungen in der historischen Abfolge und in der Begriffswahl auf. So scheint die knapp 41 Jahre umfassende DDR-Geschichte in ihrer Ganzheit allmählich aus dem Bewusstsein zu verschwinden und einer im wahrsten Sinne des Wortes verkürzten Sicht der Ereignisse Platz zu machen. Bezeichnend dafür ist, dass in der Regel nur noch von „40 Jahren DDR“ die Rede ist und die mit dem Sturz von Erich Honecker am 18. Oktober 1989 eingeleitete „Wende“ (ein Ausdruck von Egon Krenz) sowie die als „Mauerfall“ apostrophierte Grenzöffnung am 9. November 1989 nicht mehr als Teil der DDR-Geschichte begriffen, sondern in einen direkten Zusammenhang mit dem Akt der deutschen Vereinigung gestellt werden. Das 41. Jahr der DDR, an dem nur vier Tage fehlten, fällt damit unter den Tisch!
Bemerkenswert ist auch, dass der 1991 von Arnulf Baring, Wolf Jobst Siedler, Peter Christ und Ralf Neubauer in den Vereinigungsdiskurs eingeführte Kolonisierungsbegriff inzwischen ebenso aus dem Diskurs verschwunden ist wie die einst von Fritz Vilmar und Wolfgang Dümcke kritisch gemeinte Rede von einer „Kolonialisierung der DDR“. Als sprachlich abgeschwächte Version dieser Sichtweise ist heute der Terminus „Übernahme“ (Ilko-Sascha Kowalczuk) übrig geblieben. Mit ihm wird zum Ausdruck gebracht, dass die deutsche Vereinigung zwar in Frieden und Freiheit, nicht aber als Ergebnis gleichberechtigter Verhandlungen auf Augenhöhe zustande kam. Die Charakterisierung des milliardenschweren Aufbau-Programms für den Osten als „Aufschwung West“ (Jörg Roesler) beziehungsweise „Abbau Ost“ (Olaf Baale) weist auf die Folgen und die heimlichen Gewinner des Vereinigungsprozesses hin. Nicht viel anders die Vereinigungsbilanz von Steffen Mau, der 34 Jahre nach der deutschen Vereinigung meint, Ost und West seien auf absehbare Zeit „ungleich vereint“ (2024).
Am auffälligsten ist jedoch, dass sich für die deutsche Vereinigung im Zeitverlauf ein Begriff durchgesetzt hat, der, um eine Formulierung aus dem Einigungsvertrag aufzugriefen, „im Bewußtsein der Kontinuität deutscher Geschichte“ hätte auf gar keinen Fall wieder aufleben dürfen. Gemeint ist der Begriff „Wiedervereinigung“.
Meines Erachtens gibt es mindestens vier Gründe, diesen Terminus heute zu meiden: Erstens, weil er historisch belastet, ja geradezu „verbrannt“ ist. Als Hitler 1938 in Österreich einmarschierte, das Land zur „Ostmark“ erklärte und dem Deutschen Reich einverleibte, legitimierte er diesen völkerrechtswidrigen Akt mit dem Erlass eines Gesetzes. Dieses trägt den Titel „Gesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich“ vom 13. März 1938. Der Begriff „Wiedervereinigung“ galt damit bis 1945 als offizielle Sprachregelung des nationalsozialistischen Regimes für die Annexion Österreichs. Der von Kritikern hierzu alternativ verwendete Begriff „Anschluss“ diente dagegen der Distanzierung gegenüber der Sprache und Politik Hitler-Deutschlands. Zweitens ist der Begriff „Wiedervereinigung“ vorbelastet, weil er während der Adenauer-Ära bevorzugt in Revanchisten-Kreisen Verwendung fand. Um sich hiervon abzugrenzen, spielte er in den Verhandlungen zur deutschen Einheit 1990 keine Rolle und fand er ganz bewusst keinen Eingang in den Einigungsvertrag. Vielmehr ist hier ausdrücklich vom „Beitritt“ die Rede und nicht von einer „Wiedervereinigung“. Die bewusste Vermeidung des Begriffs Wiedervereinigung in den Dokumenten zur deutschen Vereinigung ist ein dritter Grund, diesen Terminus auch heute tunlichst zu ignorieren. Ein vierter Grund ist darin zu erblicken, dass es ein Deutschland in den Grenzen von 1990 zuvor niemals gegeben hat. Weder bei Kriegsende 1945 noch 1937, weder 1918 noch 1871. Ein „Wieder“ im Sinne eines Rekurs‘ auf einen zuvor vermeintlich gewesenen Zustand ist deshalb irreführend. Im Zuge der deutschen Vereinigung gab es eine Reihe von Verhandlungen und Abkommen, die im Zwei-Plus-Vier-Vertrag vom 12. September 1990 ihren völkerrechtlich-verbindlichen Abschluss fanden. Hierin ist die endgültige Regelung der Grenzen Deutschlands inbegriffen. Der Begriff Wiedervereinigung aber fand hierin – wohlbegründet – keinen Platz.
Angesichts der Tatsache – und es ist inzwischen eine Tatsache –, dass sich für die deutsche Vereinigung im Jahre 1990 inzwischen der Begriff Wiedervereinigung gegenüber den Termini Beitritt, Fusion, Übernahme oder Anschluss im offiziellen wie allgemeinen Sprachgebrauch durchgesetzt hat, ist zu fragen, welche Geisteshaltung und politische Position sich hierin letztlich offenbart. Ist es ein Zugeständnis an frühere, inzwischen überlebte Positionen der alten Bundesrepublik? Ein Spiel mit reaktionären Ideen und Zielstellungen? Ist es Ausdruck eines konservativen Rechts- und Geschichtsverständnisses? Oder einfach nur eine sprachliche Nachlässigkeit? In der alten Bundesrepublik hat man seit eh und je vom „Tag X“ und von der „Wiedervereinigung“ Deutschlands, in welchen Grenzen auch immer, geredet und geträumt. Als politisches Ziel stand die Einheit Deutschlands hier nie infrage. In der DDR verhielt sich dies bekanntlich anders. Die in den Verträgen zur deutschen Einheit gefundene Formel vom „Beitritt“ der DDR zur Bundesrepublik (gemäß Art. 23 Grundgesetz) und von der „Vereinigung“ der beiden deutschen Staaten, verbunden mit der Option der baldigen Ausarbeitung und Verabschiedung einer modernen Verfassung, war damals für beide Seiten akzeptabel. Der Rekurs auf die alte Denkweise und Sprachregelung von der „Wiedervereinigung“ ist es demgegenüber eher nicht.




